Die Stadt Stettin (Szczecin) liegt im Nordwestens Polens und ist von Berlin aus mit dem Zug in etwa...
Der Umgang mit NS-Bunkern sorgte in Berlin immer wieder für politischen Zündstoff.
Friedhofsverlegungen im 16. Jahrhundert
Das Begraben der Toten gehört zu den ältesten Traditionen der Menschheit. Die Archäologen gehen davon aus, dass erste Bestattungen bereits vor 50 000 bis 100 000 Jahren durchgeführt wurden. Die unterirdische „Entsorgung“ der Toten erscheint uns als völlig selbstverständlich und ist aus den meisten Kulturkreisen nicht mehr wegzudenken (mit Ausnahme der Einäscherung). Die Friedhöfe wiederum sind stille, abgeschiedene Orte, die ein „gesittetes“ Verhalten und oft auch besondere Kleidung erfordern. Dies war aber nicht immer so. Im Mittelalter nahmen die Friedhöfe nämlich einen zentralen Platz in den Siedlungen ein: Sie befanden sich auf dem Kirchhof, einem Ort, an dem man sich traf, an dem Geschäfte abgewickelt wurden, an dem alle möglichen Veranstaltungen stattfanden. Die Toten befanden sich sozusagen direkt unter den Lebenden.
Im 16. Jahrhundert aber setzte eine neue Entwicklung ein: Die Friedhöfe gingen wandern! Sie verließen die Zentren der Siedlungen und ließen sich außerhalb der Stadtmauern bzw. Befestigungsanlagen nieder. Mit dieser Entwicklung gingen grundsätzliche Veränderungen im Verhältnis der Menschen zu den Toten einher. Im Zeitalter der Reformation, der Pest und des sprunghaften Wachstums der Städte spiegeln die Friedhofsverlegungen die Umbrüche jener Zeit in einer anschaulichen Form wieder. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Umgang mit dem Tod zu jener Zeit:
Das Mittelalter zeichnete sich durch einen umfangreichen Totenkult aus, der mit dem Begriff „Memoria“ umschrieben wird. Dieses lateinische Wort lässt sich mit „Erinnerung“, „Andenken“ oder „Gedächtnis“ übersetzen. Die Historiker sprechen dabei von einer unmittelbaren „Gegenwart der Toten“: Die Namen der Verstorbenen wurden regelmäßig ausgesprochen und man betete unablässig für sie. Dieses Phänomen schlug sich auch in einer Vielzahl schriftlicher Genres nieder – den Vitae, den Rotuli, den Traditionsbüchern, den Sukzessionslisten und anderen Aufzeichnungen. Unter bestimmten Umständen galten Tote sogar als Rechtssubjekte. Und sie wurden, wie bereits erwähnt, auf dem Kirchhof begraben, jenem Platz, auf dem viele Aktivitäten des öffentlichen Lebens stattfanden.
Dieser Totenkult hatte hauptsächlich religiöse Gründe. Der Mensch des Mittelalters ging davon aus, dass durch den Tod nur der Körper, nicht aber die Seele einer Person zerstört wurde. Diese lebte im Jenseits weiter und man hatte die Möglichkeit, ihr Schicksal dort zu beeinflussen. Das Konzept des Fegefeuers, das sich im 12. Jahrhundert als vorherrschendes Dogma etablierte, gab den Lebenden die Möglichkeit, die Strafen, die die Toten für mögliche Verfehlungen erwarten konnten, zu mildern. Damit waren die Lebenden den Toten natürlich unmittelbar verpflichtet!
Seit dem 16. Jahrhundert wurden die Friedhöfe im Inneren der Städte bzw. Dörfer aber geschlossen. Die Toten wurden nun außerhalb der bewohnten Gebiete begraben. Dieser Trend setzte natürlich nicht überall gleichzeitig ein, es gab große Unterschiede zwischen verschiedenen Orten und Regionen. Trotzdem war die Tendenz unverkennbar: Die Toten wurden „ausgelagert“.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? In fast allen Fällen hatte es direkt vor den Verlegungen schwere Seuchen gegeben, die zahllose Opfern forderten. Es ist nicht genau bekannt, um welche Krankheiten es sich dabei jeweils handelte, doch gehen die Historiker davon aus, dass in der Regel die Beulenpest oder die Lungenpest verantwortlich waren. Beide Epidemien zeichnen sich durch eine hohe Mortalitätsrate aus: Bei der Beulenpast starben 50 bis 90 Prozent der Infizierten, bei der Lungenpest fast 100 Prozent. Die Gemeinden mussten also unzählige Menschen sehr schnell begraben. Auf den Kirchhöfen war kein Platz mehr für diese Massen – und somit wurden außerhalb der Siedlungen neue, große Friedhöfe angelegt. Die Kausalität zwischen der Pest und den Friedhofsverlegungen erscheint auch insofern plausibel, als dass Städte und Dörfer, die nicht von Seuchen heimgesucht wurden, erst sehr viel später neue, externe Begräbnisstätten anlegten.
Es gab einen weiteren Grund, die Pestleichen möglichst schnell weit weg zu schaffen: Die große Zahl verwesender Körper auf den Friedhöfen verursachte einen bestialischen Gestank, der eine unzumutbare Belastung für die Anwohner darstellte. Nicht nur das, man ging damals auch zunehmend davon aus, dass der Geruch die Pest übertragen könnte. Dieses neue Erklärungsmuster war die so genannte „Miasma-Theorie“. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die Menschen zu jener Zeit nichts von Bakterien oder Viren wussten und somit auf sensorisch orientierte Mutmaßungen angewiesen waren. Im Übrigen war es tatsächlich so, dass die Pestleichen die Gesundheit der Anwohner bedrohten: Die Erreger der Seuchen können sich nämlich noch eine Zeit lang in den Körpern halten. Zudem entstehen beim Verwesungsprozess gefährliche Giftstoffe und Mikroorganismen. Die Toten mussten weg!
In vielen von der Pest betroffenen Gebieten brach übrigens die gesamte Infrastruktur der Memoria zusammen. Sie war mit so vielen Verstorbenen schlichtweg überfordert. Es kam hinzu, dass die Seuchen natürlich keinen Bogen um die Funktionsträger der Memoria machten. Zahlreiche Mönche, die vorher fleißig für die Toten gebetet hatten, fielen selbst den Krankheiten zum Opfer. Oder sie taten das, was viele Menschen taten, wenn die Pest ihre Heimat erreicht hatte: Sie flüchteten und kamen ihren Pflichten gegenüber den Toten nicht mehr nach.
Wenn es also einen direkten Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Pest und den Friedhofsverlegungen seit dem 16. Jahrhundert gibt, so drängt sich eine Frage auf: Bereits in den vorangegangenen Jahrhunderten hatte es immer wieder Seuchen gegeben, die viele Opfer forderten. So wurde Europa zum Beispiel zwischen 1346 und 1350 von einer verheerenden Epidemie heimgesucht, die in den betroffenen Regionen etwa ein Drittel der Bevölkerung tötete. Die Friedhöfe blieben aber an ihren alten Plätzen (nur in einigen Fällen wurden provisorische Notfriedhöfe angelegt). Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?
Seit Mitte des 15. Jahrhunderts hatte es in den deutschen Regionen einen bedeutenden Bevölkerungsanstieg gegeben. So konnte zum Beispiel für die Städte des südddeutschen Raumes zu jener Zeit ein Zuwachs von etwa 0,55 % pro Jahr errechnet werden. Die Pest raffte deswegen besonders viele Menschen hinweg und die kleinen innerstädtischen Kirchhöfe, teilweise ohnehin bereits an der Grenze ihrer Kapazitäten, konnten die neuen Toten einfach nicht mehr aufnehmen. Die Zustände zu jener Zeit lassen sich also nicht mit den Auswirkungen früherer Seuchen vergleichen.
Neben dem Platzmangel auf den Friedhöfen und der „Miasma-Theorie“ gab es noch einen dritten Grund für die Verlegung der Begräbnisstätten: die Reformation. Wie bereits erwähnt, war das Phänomen der Memoria eng mit der Vorstellung des Fegefeuers verbunden. Martin Luther stand dieser Lehre im Laufe der Zeit immer feindseliger gegenüber. In theologischer Hinsicht begründete er seine Ablehnung damit, dass in der Bibel vom Fegefeuer nirgends die Rede war. Was die weltlichen Zustände betraf, empfand Luther wiederum die mit der Memoria verbundene „Heilsökonomie“ als anstößig. Die Gebete und Messen für die Verstorbenen und den Ablassverkauf waren für ihn überflüssig und fehlgeleitet. Luther hielt den spirituellen Zustand der Lebenden für ausschlaggebend, nicht die Erinnerung an die Toten! Durch diesen Ansatz wurde die enge Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, die doch ein wesentliches Merkmal der Memoria war, grundsätzlich in Frage gestellt. Außerdem war Luther der Ansicht, dass Friedhöfe stille, abgeschiedene Orte sein sollten, an denen man in Ruhe der Toten gedenken konnte. Der Protestantismus bedeutete also eine Abkehr von der Memoria – auch wenn er vereinzelt ihre Formen übernahm, so zum Beispiel bei der Verehrung Heiliger.
Der Niedergang der Memoria sollte sich lange hinziehen. In der fragmentierten Welt des Mittelalters verbreitete sich neues Gedankengut nur langsam, zwischen einzelnen Regionen konnten ganze Welten liegen. Erst gegen 1800 konnte der Prozess als abgeschlossen betrachtet werden. Die Toten hatten sich von den Lebenden endgültig verabschiedet! Dieser Zustand ist bis zum heutigen Tage erhalten geblieben. In der modernen Industriegesellschaft geht er mit einer weitgehenden Verdrängung des Todes einher. Dies hängt damit zusammen, dass der Tod mittlerweile kaum noch sichtbar ist. Die meisten Menschen erfreuen sich heutzutage einer hohen Lebenserwartung, während früher Krankheiten, Hunger und Krieg dem Leben oft schnell ein Ende setzten. Es kommt hinzu, dass die säkularisierte, konsumorientierte Welt ohnehin kaum noch Platz für den Gedanken an das Jenseits lässt: Die Menschen sollen jung, dynamisch und hübsch sein, sollen heute, jetzt, sofort genießen und den richtigen Lifestyle verkörpern. Gleichzeitig suggeriert die Wissenschaft, dass alle Probleme früher oder später durch neue Technik gelöst werden. Der Tod steht da im Wege – er kann nämlich nicht so leicht „gelöst“ werden! Selbst wenn die moderne Medizin den Prozess des Alterns weiter verlangsamen könnte, bleibt fraglich, ob die Menschen wirklich 120 oder 150 Jahre alt werden möchten …
Somit bleiben die Friedhöfe vorerst ruhige, entrückte Orte jenseits der Rastlosigkeit unseres Alltags. Ob dies für immer so bleiben wird, ist eine andere Frage. Die möglichen globalen Katastrophen des 21. Jahrhunderts könnten als große Mortalitätskrisen vielleicht einen neuen Totenkult hervorrufen. Ob und wie sich das auf die Friedhöfe auswirken wird – damit werden sich vielleicht die Historiker des 25. Jahrhunderts befassen!
Copyright Niko Rollmann