Die Stadt Stettin (Szczecin) liegt im Nordwestens Polens und ist von Berlin aus mit dem Zug in etwa...
Der Umgang mit NS-Bunkern sorgte in Berlin immer wieder für politischen Zündstoff.
„Stand clear of the doors, please!“
Mit der U-Bahn quer durch London – eine Stadtrundfahrt auf der Piccadilly Line
Bei Barons Court Station geht es los. Dieser Bahnhof ist auch relativ leicht zu finden. Schauen Sie mal auf Ihren kleinen U-Bahnplan (den Sie in jeder Station gratis am Schalter bekommen): Links unten sehen Sie zwei grüne Linien. Eine fährt nach Richmond, eine nach Wimbledon. Ja, genau da! Nun legen Sie Ihren Finger auf die Wimbledon-Linie und bewegen ihn nach oben, etwa drei Zentimeter weit. Und dann müssten Sie Barons Court links neben Ihrer Fingerspitze ausmachen können. Prima, erste Herausforderung bestanden!
Sie sind natürlich mit einer „Travelcard“ - oder gar einer neumodischen „Oyster Card“ - und einer gehörigen Portion Neugierde bewaffnet. Und Ihre erste Lektion haben Sie bereits beim Kauf der Fahrkarte gelernt: Die Londoner U-Bahn ist sehr teuer. Genauer gesagt: Sie ist die teuerste der Welt ... und macht trotzdem noch Verluste! Um diese bemerkenswerte Erkenntnis bereichert, nehmen Sie nun die Piccadilly Line Richtung Osten, also „eastbound“, ins Zentrum hinein. An dieser Stelle hat der aus Heathrow oder Uxbridge kommende Zug bereits eine lange Reise durch die endlosen Vororte hinter sich. Nun wird er sich gleich in den Tunnel begeben und seine Fahrt unter der geschichtsträchtigen Erde Londons fortsetzen.
Stellenweise liegt die Londoner U-Bahn sehr tief
Halt, noch nicht einsteigen! Ein paar Sachen sollten Sie noch wissen, bevor ... was? Sie möchten nicht auf den nächsten Zug warten? Machen Sie sich keine Sorgen – die Piccadilly Line kommt etwa alle zwei Minuten. London ist eine Weltstadt und diese Linie stellt eine ihrer wichtigsten Arterien dar! Sie durchquert die Stadt zunächst von West nach Ost und entschwindet dann Richtung Norden. Dabei bekommt man einen guten Eindruck von der immensen Ausdehnung dieser Stadt. Die London Underground ist übrigens die Mutter aller U-Bahnen, sie wurde bereits 1863 in Betrieb genommen. Der Rest Europas folgte erst mehrere Jahrzehnte später. Ihr Streckennetz umfasst über 270 Stationen mit mehr als 400 Kilometern Streckenlänge (von denen aber nur 40 Prozent unter der Erde verlaufen). Momentan fahren täglich drei Millionen Menschen mit der Londoner U-Bahn. Pro Jahr sind das ... jawohl, über eine Milliarde Fahrgäste!
Bevor Sie jetzt in den nächsten, sich bereits nähernden Zug steigen, sollten Sie schnell noch einen Blick auf den Streckenplan werfen. Wussten Sie, dass dieses Diagramm, entworfen von Henry (Harry) Beck, zu den großen Design-Klassikern des 20. Jahrhunderts gehört? Ursprünglich waren die Pläne sehr realitätsnah und gaben den Verlauf der Linien durch die Stadt geographisch korrekt wieder. Das machte diese Karten aber auch sehr unübersichtlich. Mister Beck räumte den Plan mit einer einfachen Idee gründlich auf: Er ahmte einen elektrischen Schaltplan nach und ließ die Linien einem geometrischen Muster entsprechend verlaufen. Sämtliche Winkel betrugen nur noch 90 oder 45 Grad. Das Ergebnis entsprach zwar nur noch begrenzt der Geographie Londons, war aber ungemein übersichtlich. Millionen großstadtüberforderter Touristen müssten Beck auf Knien danken, hat er ihnen doch in dem riesigen Großstadtgewusel Londons ein Stückchen Klarheit verschafft ... und auch ein kleines ästhetisches Erlebnis. Die Becksche Karte, 1933 eingeführt, ist heutzutage Maßstab für die meisten U-Bahnen der Welt.
So, jetzt sind Sie im Zug und haben sich hingesetzt. Schauen Sie sich mal diskret die anderen Fahrgäste an: Ein buntes Durcheinander verschiedenster Hautfarben und Outfits. Hier merkt man sofort, dass London eine multikulturelle Stadt ist, hier spürt man noch einen Hauch des Empires, das einst ein Viertel des Erdballs umfasste: Inder, Pakistaner, Bengalesen, Südafrikaner, Ägypter, Ugander, Jamaikaner, Malteser, Australier, Zyprioten, Schotten, Iren und wer weiß was noch haben sich über Jahrzehnte hinweg hier angesiedelt ... ganz zu schweigen von den Millionen Touristen, die jedes Jahr in die britische Hauptstadt einfallen. Ein buntes Völkergemisch, das innerhalb der letzten Jahre noch einmal kräftig mit Polen und Russen angereichert wurde. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Sprachstudenten und Au-pair-Mädchen, die es nach London zieht. Ja, die Piccadilly Line ist ein kleiner Mikrokosmos Großbritanniens.
Vielleicht fällt Ihnen auch auf, dass der Zug recht laut über die Schienen rattert und die Fahrgäste ein bisschen durchschüttelt. Oder Sie haben bemerkt, dass die Wände des Tunnels, in den sie gerade hineingefahren sind, mit einer schwarzen, nicht sehr appetitlichen Schicht bedeckt sind. Diese dezente Schäbigkeit ist ein typisches Merkmal dieses Landes. Großbritannien war der erste Staat, in dem das moderne Fabrikwesen entstand. Die industrielle Revolution nahm hier zwischen 1750 und 1780 ihren Anfang. Im 19. Jahrhundert stieg Großbritannien dann zur Supermacht auf ... das modernste und mächtigste Land, das es damals gab. Aber genau das ist heutzutage auch das Problem: Die Infrastruktur stammt teilweise noch aus dieser Zeit und ächzt unter der Last der Jahre. Der lange, schmerzhafte Niedergang des Weltreiches setzte bereits nach dem Ersten Weltkrieg ein und zog sich bis weit in die siebziger Jahre hinein. Für eine kostspielige Modernisierung des Landes war lange kein Geld vorhanden ... auch heutzutage knirscht es noch an vielen Stellen.
Hoffentlich haben Sie es sich nicht allzu bequem gemacht. Wir haben nämlich gerade Earl’s Court erreicht und Sie müssen bereits wieder aussteigen. Wenn Sie sich jetzt den Bahnsteig anschauen, können Sie sehen, warum die Londoner ihre U-Bahn „Tube“, also Röhre, nennen: Vielerorts sind die Stationen nämlich röhrenförmig gestaltet. Als Nächstes fallen Ihnen vielleicht die Überwachungskameras auf. Die ersten Geräte dieser Art wurden einst installiert, um die Stadt vor den Bomben der IRA zu schützen, die London seit 1973 immer wieder erschütterten. Mit diesen Anschlägen wollten die Terroristen einen Abzug der britischen Truppen aus Nordirland bewirken. Die Bomben forderten teilweise einen hohen Blutzoll. Aber die stoischen Briten ließen sich dadurch nicht einschüchtern ... sie hatten ja auch die deutschen Bombenangriffe und Hitlers „Vergeltungswaffen“ überstanden, jene V1 und V2-Flugkörper, die England 1944 und 1945 heimsuchten.
Die Bomben der IRA gehören (hoffentlich endgültig) der Vergangenheit an. Aber die Kameras blieben ... und vermehrten sich sogar fleißig! In einem Land, das große Angst vor Verbrechen hat und sich von aggressiven Jugendlichen aus der Unterschicht bedroht sieht, scheinen diese Geräte unentbehrlich zu sein. Einige spektakuläre Mordfälle, die mit Hilfe von Kameras aufgeklärt wurden und die im Juli 2005 verübten Anschläge islamischer Fundamentalisten – die vor allem die U-Bahn trafen – haben die Kameras endgültig im englischen Alltag verankert. Die Erfolge dieses Systems mögen seinen Befürwortern vielleicht Recht geben. Und trotzdem reibt der Beobachter sich doch manchmal verwundert die Augen. Die Briten ... war das nicht jenes aufmüpfige, freiheitsbewusste Völkchen, das dem Staat schon früh die Grenzen zeigte? Und was würde George Orwell zu dieser Entwicklung sagen?
By the way: Auf den Bahnsteigen finden Sie übrigens meistens keine Mülleimer. Auch das ist ein Erbe der IRA. In nicht vorhandenen Mülleimern können auch keine Zeitbomben explodieren!
Wenn Sie Lust haben, gehen Sie doch mal nach oben, zum offenen Bahnsteig der District Line. Dort können Sie jenes Gemisch erkennen, das für das heutige Großbritannien so typisch ist: uralte Richtungsanzeiger (über die sich manches Museum freuen würde) neben modernsten digitalen Displays. Typisch für ein Land, das sich immer durch große Gegensätze ausgezeichnet hat: arm und reich, prüde und lüstern, großzügig und knickerig, tollkühn und konservativ, insular und weltmännisch. So, jetzt aber zurück in den Zug! Die nächste Station heißt Gloucester Road und hat sich für viele Ausländer als sprachliche Fallgrube erwiesen. Der Name wird nämlich nicht wie „Glukester“, sondern wie „Gloster“ ausgesprochen. Von den Unregelmäßigkeiten der britischen Sprache haben Sie sicher schon mal gehört - das ist ein Kapitel für sich!
Am folgenden Bahnhof, South Kensington, sollten Sie unbedingt aussteigen. Gehen Sie nach oben in die Schalterhalle. Von dort aus führt ein langer Fußgängertunnel zu erlesenen Museen: Die Kulturinteressierten können sich im Victoria and Albert Museum delektieren. Technikbegeisterte Herren dürfen im Science Museum staunen und hier und da mal einen Knopf drücken (dann passiert irgendwas). Und quengelnde Kinder können bei den Dinosauriern im Natural History Museum abgeliefert werden.
Installation im Victoria und Albert Museum
Falls die britischen Pfunde Ihnen unangenehm in der Tasche brennen, wird Knightsbridge ganz schnell Abhilfe schaffen. Dort wartet schon das legendäre Kaufhaus „Harrods“ auf Sie. Vor allem die berühmten „Food Halls“ sollte man mal gesehen haben. Und auch die beiden Schreine, die an Princess Diana und Dodi Al Fayed erinnern, jenes tragische Pärchen, das 1997 bei einem Autounfall in Paris ums Leben kam. Dodis Vater Mohamed ist nämlich der Besitzer des Kaufhauses. Wahrscheinlich hat das britische Establishment ihm nie verziehen, dass er, ein Ägypter, diese urbritische Institution in den achtziger Jahren übernommen und auf Trab gebracht hat hat. Und vielleicht haben Sie auch schon mal davon gehört, dass das Unglück, bei dem Diana und Dodi ums Leben kamen, für Mohamed Al Fayed kein Unfall, sondern ein Anschlag war. Dianas politisches Engagement, wie es sich zum Beispiel in ihrer Kampagne gegen Landminen ausdrückte, wäre von konservativen Kreisen als Bedrohung empfunden worden. Darüber hinaus wurde auch der Verdacht geäußert, dass Dianas „abtrünniges“ Verhalten und ihre Affäre mit einem Moslem ein Albtraum für das britische Königshaus gewesen wäre. Und deswegen musten die Beiden eben „aus dem Weg geräumt“ werden. Nun ... zurück zu Harrods: In diesem Kaufhaus soll man sogar einen Elefanten bestellen können. Falls Ihr Geldbeutel etwas kleiner sein sollte oder Ihnen nicht nach Rüsseltieren zumute ist: Kaufen Sie sich einfach eine Zeitung und schinden Sie daheim mit der Harrods-Einkaufstüte Eindruck. Funktioniert immer!
Nach dem Einkaufsgetümmel möchten Sie sich etwas erholen, ja? Dann ist der nächste Stop, Hyde Park Corner, genau das Richtige für Sie. An dieser Ecke haben Sie die Wahl zwischen zwei riesigen Parks: dem Hyde Park (wie der Name des Bahnhofes bereits andeutet) und dem Green Park. Das wiederum ist auch der Name der folgenden Station. Dort können Sie übrigens eine kleine Expedition unternehmen, indem Sie „mal eben“ zur Jubilee Line umsteigen. Es gibt dafür zwei Möglichkeiten, die sich beide durch eine tagestourähnliche Dimension auszeichnen. Wehe dem, der Probleme mit den Beinen hat! An der großen Rolltreppe am Ende des Bahnsteiges der Piccadilly Line können Sie auch gut sehen, wie tief die Londoner U-Bahn teilweise liegt – so tief, dass zahlreiche Menschen dort während des Zweiten Weltkrieges Schutz vor deutschen Bomben suchten. Dabei schliefen sie sogar auf den Bahnsteigen. Ein damals nicht sehr bekannter Künstler namens Henry Moore hat in seinen „Shelter Drawings“ das Elend dieser Menschen eindringlich festgehalten. Auch heute gehen diese Zeichnungen noch unter die Haut ...
Eine Station noch und Sie haben das touristische Herz der Stadt erreicht, Piccadilly Circus, einen Ort, der von den Einheimischen eher gemieden wird. Aber tun Sie sich das Touristengewühl ruhig an, betrachten Sie die riesigen Leuchtreklamen und statten Sie der berühmten Eros-Statue einen Besuch ab. Die steht dort seit 1893 und gehört – zusammen mit ihrem Brunnen – zu den bekanntesten Treffpunkten der Welt. Gehen Sie dann wieder in die Station zurück, deren Schalterhalle mit abgenutztem Charme von alten Zeiten erzählt. Suchen Sie doch mal die kleine Weltzeituhr! Vielleicht möchten Sie dort auch die Toiletten benutzen, die gehören nämlich zur selten gewordenen Gattung „kostenlos“. Zur Weihnachtszeit stößt man im Eingangsbereich dieser WCs unerwartet auf die britische Höflichkeit – wenn einem buntes Papier „Merry Christmas and a Happy New Year“ wünscht. Und dann wieder in den Tunnel zurück, vorbei an den musizierenden „buskers“, die mittlerweile zur Institution geworden sind. Wenn Sie schließlich wieder auf dem Bahnsteig stehen, können Sie im Gleistrog vielleicht die eine oder andere Maus erspähen. Aber nicht füttern!
Wo wir gerade bei den Tierarten sind: Am folgenden Bahnhof Leicester Square können sich die Bücherwürmer austoben. An der Charing Cross Road gibt es eine Reihe gut sortierter Buchgeschäfte, die zum Verweilen und Stöbern einladen. Vor allem die Secondhandshops und das berühmte „Foyles“ sind sehr zu empfehlen. Falls der Rest der Familie oder sonstige Mitreisende Ihnen dabei im Wege stehen sollten, können Sie diese in einem der großen Kinos am Leicester Square deponieren. Und noch etwas: Der Name „Leicester“ wird (natürlich) wie „Läster“ ausgesprochen!
Einen erstklassigen Fitnesstest können Sie in der Station Covent Garden absolvieren. Auf dem Weg zum Ausgang verzichten Sie einfach auf den Fahrstuhl und nehmen stattdessen die Wendeltreppe mit ihren 193 Stufen. Danach wissen Sie ganz genau, wie tief diese Linie unter dem Pflaster Londons fährt! Und Ihr Herz wird sich auch darüber freuen. Jede Stufe verlängert das Leben um ... äh ... sieben Sekunden. Wenn Sie die Oberfläche infarktfrei erreicht haben, sollten Sie sich schnell durch den Covent Garden Market kämpfen, der einzig und allein von Touristen übervölkert wird. Ihr Ziel ist das schöne „London Transport Museum“ am anderen Ende des Platzes, wo Sie sich mit der Geschichte des örtlichen Nahverkehrs befassen können. Und im „museum shop“ besorgen Sie dann gleich für die Daheimgebliebenen ein paar nette Souvenirs: vielleicht eine pikante Unterhose mit Becks Streckenplan? Oder lieber das sechsbändige, schubergestützte Werk über die Metropolitan Line in der Zwischenkriegszeit?
Der Museen nicht genug: Beim nächsten Halt, in Holborn, müssen Sie unbedingt das weltberühmte British Museum besuchen, das eine unvorstellbare Sammlung aus aller Herren Länder zusammengetragen (oder geraubt) hat. Vor allem die Freunde antiker Schätze kommen hier auf ihre Kosten. Und vielleicht haben Sie schon mal gehört, dass ein gewisser Herr Marx dort im Lesesaal der „King’s Library“ große Teile von „Das Kapital“ geschrieben hat. Für das British Museum können Sie gerne ein paar Stunden einplanen, Bildung schadet ja nie! Und auf dem Weg dorthin können Sie an der Ecke Southampton Row/Theobald’s Road die verschlossene Rampe eines Tunnels der Londoner Tram sehen. Ja, auch diese Metropole hatte mal eine Straßenbahn, die, wie in so vielen anderen Städten, dem „autogerechten“ Verkehr zum Opfer gefallen ist (es wird allerdings berichtet, dass seit dem Jahre 2000 im Stadtteil Croydon mehrfach Trams gesichtet wurden). Und wo wir gerade beim Verkehr sind: Die Piccadilly Line hatte hier einst eine Abzweigung, die zu einer Station namens Aldwych führte. 1994 wurde dieser Bahnhof aber geschlossen und hat sich zu den so genannten „ghost stations“ gesellt, von denen es etwa ein Dutzend gibt.
Wir haben es fast geschafft! Die Station Russell Square können Sie ruhig über-springen. Oder ... nein, steigen Sie mal kurz aus und schauen Sie sich das Senate House an, das auf der anderen Seite des Platzes liegt. Dieses riesige Gebäude aus den dreißiger Jahren wurde von Charles Holden für die University of London errichtet. Vorsichtshalber hat er seinen Bau für eine Lebensdauer von 500 Jahren konzipiert, better safe than sorry. Ob dieser schlichte Riese, der etwas an faschistische Architektur erinnert, in 450 Jahren wirklich noch steht? Machen Sie schnell ein Photo – and back to the station!
Russell Square Station
Eine der drei Bomben, die am 7. Juli 2005 von islamischen Fundamentalisten in der U-Bahn gezündet wurden, detonierte im Tunnel der Piccadilly Line, zwischen den Stationen Russell Square und King’s Cross St. Pancras. Die Spezialtrupps, die Überlebende retten und Leichen bergen sollten, mussten ihre Arbeit unter extremen Bedingungen verrichten. In den tiefen, engen, heißen, einsturzgefährdeten Tunneln wurde ihre Tätigkeit zudem durch Gestank und den Anblick von Blut, Körperteilen und zerrissenen Organen erschwert, die über die zerstörten Waggons verstreut waren. Für die in dem Tunnel lebenden Ratten wiederum stellten diese menschlichen Reste eine besondere Attraktion dar ...
Letzter Halt: King’s Cross St. Pancras. Danach macht sich die Piccadilly Line wieder auf den langen Weg in die Vororte hinein. Der Name deutet bereits an, dass es sich dabei eigentlich um zwei (nahe beeinander liegende) Stationen handelt ... eben King’s Cross und St. Pancras. Sie gehören zur Eisenbahn und werden durch die große U-Bahnstation miteinander verbunden. Sechs Linien treffen hier aufeinander: die Piccadilly Line, die Victoria Line, die Northern Line, die Hammersmith & City Line, die Circle Line und die Metropolitan Line. Ein wahrer U-Bahngigant!
King's Cross Station
Vor nicht allzu langer Zeit war diese Gegend noch trostlos und heruntergekommen. Zwischen den beiden Stationen und weiter Richtung Norden lag eine Einöde, die sich von den Folgen des Zweiten Weltkrieges nie erholt hatte. Prostituierte, Drogendealer und Obdachlose prägten dort das Stadtbild. Das entsetzliche Ereignis, das sich am 18. November 1987 in der U-Bahnstation abspielte, passte gut zu dieser traurigen Szenerie. Bis jetzt ist immer noch nicht genau bekannt, wie alles anfing. Aber wahrscheinlich passierte Folgendes: Abends, gegen viertel nach sieben, warf ein Fahrgast, der sich eine Zigarette angezündet hatte, das noch brennende Streichholz auf eine der hölzernen, gut 50 Jahre alten Rolltreppen. Das Streichholz fiel in das Innere der Rolltreppe, dort, wo sich lange Staub und Müll angesammelt hatten.
Einige Fahrgäste berichteten später, sie hätten brennendes Gummi gerochen, jedoch keine Flammen und keinen Rauch gesehen. Aber dann, um viertel vor acht, schoss plötzlich ein Feuerball aus der Rolltreppe und setzte die Schalterhalle in Brand. Dichter Rauch verbreitete sich schlagartig, die Beleuchtung fiel aus. Panik. Erst nach zwei Stunden hatte die Feuerwehr den Brand halbwegs unter Kontrolle. 31 Tote und fast 80 Verletzte. Zwei Tage später suchte der Verfasser den Unglücksort auf. Vor einem der abgesperrten Eingänge der Station lagen viele Blumen. Dahinter war alles pechschwarz, und ein warmer, nach Brand riechender Luftzug strömte aus dem Eingang. So sah die Hölle aus.
Die folgende Untersuchung ergab, dass das Unglück ein Ergebnis jahrelanger Schlamperei und Vernachlässigung war. Zahlreiche Gründe hatten aus einem Streichholz eine Katastrophe gemacht. Hier zeigte sich der britische Schlendrian von seiner schlimmsten Seite: herumliegendes brennbares Material, Inkompetenz, zu wenig Personal, keine Notfallübungen, keine automatischen Warnanlagen, keine Sprinkler ...
Vielleicht läuft jetzt noch irgendwo der Mensch herum, der damals auf der Rolltreppe das Streichholz anzündete. Wie lebt man damit? Kann man damit leben? Verdrängt man das? Glaubt man, hofft man, dass es ein anderes Streichholz war? Hält man diese endlose, quälende Ungewissheit aus? Spricht man darüber? Haben noch andere Menschen gegen viertel nach sieben ein Streichholz auf der Rolltreppe dieser belebten Station angezündet? Zwei, drei ... vielleicht sogar vier?
Seit 2001 wischt ein großes Sanierungsprojekt nun alles weg, die verfallenden Häuser, die Dealer, die Prostituierten ... und die Erinnerung an das Feuer. Hell und neu soll das Areal erstrahlen, gut bestückt mit Überwachungskameras. Und Sie? Sehen Sie sich noch das gotisch anmutende „Midland Grand Hotel“ an, das über der St. Pancras Station thront. Lange Zeit wurde dieses 1871 fertiggestelle Hotel als katastrophale Hässlichkeit beschimpft. Heutzutage gehört es aber stillschweigend zu den Klassikern der Londoner Architektur.
So, jetzt haben Sie ein intensives Touristenprogramm absolviert. Im nächsten Pub wartet bereits ein lauwarmes Bier auf Sie. Oder vielleicht der fruchtige, kühle, hinsichtlich seines Alkoholgehaltes nicht zu unterschätzende Cider? The choice is yours. Cheers ... and goodbye!
Juni 2007