Die Stadt Stettin (Szczecin) liegt im Nordwestens Polens und ist von Berlin aus mit dem Zug in etwa...
Der Umgang mit NS-Bunkern sorgte in Berlin immer wieder für politischen Zündstoff.
Historische Funde in ehemaligen Konzentrationslagern
Archäologie … das sind Forscher, die antike Siedlungen ausgraben oder alte Pestfriedhöfe untersuchen. Oder vielleicht irgendwo Reste aus der Neuzeit ans Tageslicht befördern. Und wenn Archäologen das große Los ziehen, finden sie vielleicht mal ein Troja oder einen Tutanchamun. Oder aber sie durchsieben Erde auf der Suche nach Knochensplittern oder wühlen sich durch mittelalterliche Müllkippen. Und das war es dann auch eigentlich. Oder? Wer weiß schon, dass die Archäologie sich auch mit dem 20. Jahrhundert befasst? In diesem Bericht soll ein neuer Zweig der Archäologie, der in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erregt hat, vorgestellt werden: die so genannte „KZ-Archäologie“.
Fangen wir einmal von vorne an: Was genau ist Archäologie? Diese Wissenschaft versucht, die Vergangenheit anhand bestimmter Objekte zu rekonstruieren – im Gegensatz zu Historikern, die sich primär auf schriftliche Quellen, die Aussagen von Zeitzeugen oder z.B. Photos stützen. Die Objekte, nach denen Archäologen suchen, müssen nicht aus der Vorgeschichte, der Antike oder dem Mittelalter stammen. Und sie müssen nicht unter der Erde liegen! Stattdessen können es auch Gegenstände an der Oberfläche sein, die einen zeithistorischen Bezug haben. So spricht man heutzutage bereits, mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, von einer „Bunker-“ bzw. „Schlachtfeldarchäologie“. Sogar die Reste der Berliner Mauer sind bereits von Archäologen begutachtet und inventarisiert worden. Eine Voraussetzung ist dabei natürlich, dass die entsprechenden Objekte einen historischen Charakter aufweisen und nicht mehr verwendet werden bzw. nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck verwendet werden. Und sie müssen für die Forscher natürlich zugänglich sein.
Archäologie ist immer ein Produkt ihrer Zeit: Was sucht man? Wo sucht man? Wie viel Geld ist vorhanden? Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung? Welche Methoden kommen zum Einsatz? Wie werden die Funde interpretiert? In diesem Zusammenhang hat sich oft auch eine politische Dimension der Archäologie offenbart. Wenn Völker z.B. um Territorien streiten oder um die kulturelle Hegemonie gerungen wird, kann Archäologie oft ideologisch missbraucht werden. Wer war zuerst da? Wer vereinnahmt wessen Kultur? Wem gehören die Schätze? Darüber hinaus werden die Ergebnisse der Archäologie auch durch einen anderen, ganz banalen Faktor beeinflusst: Wo gerade viel gegraben wird, kann man auch viel finden! Und so entstand letzten Endes auch das Genre der KZ-Archäologie:
Nach der Wiedervereinigung wurde in der ehemaligen DDR sehr viel Erde bewegt. Neue Supermärkte, Baumärkte, Kinos, Fitness-Studios, Videotheken und manchmal sogar ganze Stadzentren schossen wie Pilze aus dem Boden. Bei diesen Bauarbeiten wurden viele archäologische Funde gemacht, die teilweise aber auch schnell wieder zerstört wurden! Aus nahe liegenden Gründen waren die Bauherren nämlich oft bemüht, die Funde diskret verschwinden zu lassen. Die Archäologen mussten also sehr aufmerksam sein und konnten oft nur die wichtigsten Objekte in eilig durchgeführten „Notgrabungen“ sichern. Die großen Erdbewegungen machten auch vor den ehemaligen KZs nicht halt. Die dortigen Gedenkstätten waren oft in einem maroden Zustand und mussten saniert werden. Gleichzeitig war auch eine inhaltliche Überarbeitung und Erweiterung der Ausstellungen notwendig: Die DDR hatte die historische Auseinandersetzung mit diesen Orten – und dem Nationalsozialismus generell – auf gebetsmühlenartig wiederholte Phrasen von „Faschisten“ und „antifaschistischen Widerstandskämpfern“ reduziert. Die Tatsache, dass die KZ-Insassen hauptsächlich Juden und nicht Kommunisten waren, wurde dabei weitgehend ignoriert. Der Verfasser besuchte im Jahre 1988 auf einer Klassenreise das KZ Buchenwald und war erschrocken von der eindimensionalen, drastisch verkürzten Sichtweise des Nationalsozialismus, die dort präsentiert wurde. Auch die vorhandenen museumspädagogischen Ressourcen wiesen riesige Defizite auf. De facto musste man in diesem Bereich noch einmal von vorne anfangen!
Bei den folgenden großflächigen Erdbewegungen wurden dann unzählige Objekte gefunden, die Geschichten vom Leben in den KZs erzählten. Vor allem aus den früheren Müllhalden konnten zahllose Gebrauchsgegenstände geborgen werden: zerbeulte Trinkflaschen, Kämme aus verschiedensten Materialien, defektes Werkzeug, zerbrochenes Geschirr, Besteck und Schuhe. Anderswo fand man die Reste von Menschen: Knochen, Zähne und die Asche aus den Krematorien. Hier kann man wahrhaftig von einer Archäologie des Grauens sprechen. Erschütternd sind auch die kleinen Behälter mit Nachrichten, die von den Häftlingen heimlich vergraben wurden. Diese Schriftstücke berichten vom Massenmord der Nazis, oft nur ein paar hastig hingeworfene Zeilen, begleitet von der stillen Hoffnung, dass eines Tages jemand diese Dokumente finden und die Wahrheit über das Geschehen in den Lagern erfahren würde …
Darüber hinaus tauchten bei diesen Arbeiten auch die Relikte eines anderen Kapitels der Geschichte auf, das zu DDR-Zeiten systematisch verschwiegen wurde: die Nutzung der KZs als sowjetische Häftlingslager nach dem Krieg. So hielt z.B. in Sachsenhausen der sowjetische Geheimdienst insgesamt 60 000 Menschen gefangen, von denen 12 000 die Haft nicht überlebten – politische Gegner des neuen Regimes, Kriegsgefangene, Nazis und Andere. In diesen Fällen ist die Arbeit der Archäologen von besonderer Bedeutung, da es kaum schriftliche Quellen gibt bzw. die vorhandenen Unterlagen in verschlossenen russischen Archiven liegen.
Die in den ehemaligen KZs gefundenen Objekte sind somit eindringliche Beweise der schrecklichen Vorgänge, die sich einst dort abspielten. Und gerade das ist heutzutage von besonderer Bedeutung. Die dreißiger und vierziger Jahre gleiten jetzt aus der Zeitgeschichte heraus, die letzten Augenzeugen sterben weg. Und die schriftlichen Unterlagen, die den Historikern vorliegen, sind oft unzulänglich. Auf die problematische Quellenlage hinsichtlich der Nutzung der Lager durch den sowjetischen Geheimdienst wurde oben bereits hingewiesen. Aber auch die Massaker der Nazis sind nur unvollständig dokumentiert. Zwar wird oft von der peniblen, bürokratischen Akribie der „Schreibtischtäter“ berichtet, doch erstreckte sich diese nur über bestimmte Bereiche. In den von den Nazis besetzten Gebieten machte man sich oft nicht die Mühe, alle „Vorgänge“ schriftlich festzuhalten. Zudem gingen manche Unterlagen im Krieg verloren - oder wurden vor Kriegsende vernichtet, um keine Beweise zu hinterlassen. Andere Bestände wiederum verschwanden in den Archiven der Alliierten. Der KZ-Archäologie kommt hier die Aufgabe einer historischen und forensischen Spurensicherung zu.
Von besonderer Bedeutung ist diese Arbeit vor allem dann, wenn von die ehemaligen Lager überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Die großen KZs betrieben nämlich ein Netzwerk so genannter „Außenlager“, die vorrangig der Produktion militärischer oder sonstiger Güter dienten. Oft wurden diese Lager schnell errichtet, baulich mehrfach verändert und nach dem Krieg wieder abgerissen. Man tilgte die Spuren und ein Mantel des Schweigens legte sich über diese Orte. Die Menschen, die in der Nachbarschaft der Außenlager gelebt hatten, verdrängten, was in ihrer unmittelbaren Nähe geschehen war. Man schloss sich dem „Wir haben davon nichts gewusst!“-Konsens der Nachkriegszeit an. Da die Außenlager besonders schlecht dokumentiert sind und es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, ist die KZ-Archäologie hier von großer Wichtigkeit. Wichtige Impulse kommen dabei oft von Initiativen, die sich dieser vergessenen Stätten annehmen, nach Überresten suchen und Dokumentationszentren oder Mahnmale und Gedenkzeichen errichten. Dabei spielt im Berliner Umfeld z.B. das „Netzwerk Außenlager“ der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten eine bedeutende Rolle. Die bürgernahen Initiativen passen vielleicht auch insofern gut zum Charakter der KZ-Archäologie, als dass die vielen Alltagsgegenstände, die sie ans Tageslicht bringt, eine Geschichtsschreibung „von unten“ darstellen.
Neben der Sicherung von Beweisen kommt der KZ-Archäologie eine zweite wichtige Funktion zu, die oben bereits angedeutet wurde: Die vorgefundenen Gegenstände sind, im wahrsten Sinne des Wortes, sehr plastisch und zeichnen sich durch eine hohe Aussagekraft aus. Aus diesem Grunde eignen sie sich gut zur Vermittlung der unfassbaren Geschehnisse in den KZs. Denn oft werden die existierenden Gedenkstätten und Museen von „Flachware“ dominiert (Texte, Dokumente, Photos und Grafiken). Diese Präsentationsweise kann mitunter kopflastig und monoton sein und läuft damit Gefahr, bei weniger gebildeten oder jüngeren Menschen ihr pädagogisches Ziel zu verfehlen. Oft erreicht sie dann nur diejenigen, die ohnehin bereits gut über den Nationalsozialismus informiert sind und nicht zur eigentlichen Zielgruppe gehören. Die Funde der KZ-Archäologie können diese Lücke schließen. Sie erzählen Geschichten und werfen Fragen auf, sie sind sinnlich erfahrbar, sie prägen sich besser ein als lange Texte. So führen z.B. jugendliche Freiwillige in internationalen „Workcamps“ archäologische Grabungen in ehemaligen KZs oder Außenlagern durch. Anhand der Gegenstände, die sie dabei oft finden, wird der Schrecken dieser Orte für sie nachvollziehbar. Und die Funde wiederum können danach natürlich in den Gedenkstätten ausgestellt werden!
Die Probleme, mit denen sich die KZ-Archäologie auseinander setzen muss, sind oft symptomatisch für die Archäologie als Ganzes. Es geht um den Konflikt zwischen den wissenschaftlichen bzw. denkmalpflegerischen Ansprüchen und den knappen finanziellen Ressourcen. Auch die Frage, wie mit bestimmten Funden umzugehen ist, spielt eine Rolle. Um diese Aspekte anhand eines Beispiels zu demonstrieren: In einem ehemaligen KZ wird ein altes Straßenpflaster, das vor langer Zeit zugeschüttet wurde, wieder freigelegt. Was macht man damit, wenn die archäologische Dokumentation dieses Bodendenkmals abgeschlossen ist? Wird das Pflaster der Witterung ausgesetzt, ist seine Zerstörung durch Wasser und Frost, langfristig gesehen, nur eine Frage der Zeit. Der Abnutzungsprozess würde sich zudem beschleunigen, wenn die Besucher der Gedenkstätte das Pflaster betreten dürften! Also sollte man es eigentlich wieder zuschütten bzw. mit einer Schutzschicht abdecken. Aber dann wiederum wäre es für die Besucher der Gedenkstätte nicht mehr sichtbar. Sollte man vielleicht ein Schutzdach bauen? Aber wer bezahlt das in den Zeiten leerer Kassen? Und wie groß ist die Aussagekraft einer alten Straße überhaupt? Welche Erkenntnisse kann man den Besuchern der Gedenkstätte damit konkret vermitteln?
Darüber hinaus wird die pädagogische Komponente der KZ-Archäologie, wie sie z.B. in der Arbeit mit Jugendlichen zur Anwendung kommt, gelegentlich von etablierten Forschern kritisiert, die vor einer „verbrauchenden Pädagogik“ warnen: Die kaum ausgebildeten Teilnehmer der Workcamps könnten durch unprofessionelle Arbeit Schaden anrichten und Bodendenkmäler sogar zerstören. Es wäre aber die Pflicht der Archäologen, die Dinge zu erhalten. Hier gilt es, Kompromisse zwischen den kurzfristig ausgerichteten Pädagogen (der Aufenthalt in den Workcamps beträgt nur einige Wochen) und den langfristig orientierten Archäologen zu finden.
Ein weiteres Problem ist die mangelnde Vernetzung der Forscher bzw. ihrer Ergebnisse. Die KZ-Archäologie ist sehr jung und verfügt noch nicht über eine flächendeckende organisatorische und institutionelle Infrastruktur. So gibt es zum Beispiel noch keine zentrale, systematische Erfassung der entsprechenden Stätten und Fundorte. Einheitliche Kriterien für die Kategorisierung und Bewertung der Funde sind noch nicht entwickelt worden. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften findet bislang oft nur sporadisch statt. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten. Wenn die KZ-Archäologie mittlerweile auch ihre „Sturm und Drang“-Phase der neunziger Jahre hinter sich gelassen hat, so fehlt ihr vielleicht doch noch eine gewisse Reife.
Abschließend ist zu bemerken, dass die KZ-Archäologie hinsichtlich ihrer Bedeutung und Aussagekraft nie mit den anderen Bereichen der Archäologie vergleichbar sein wird. Sie setzt sich mit den düstersten Kapiteln der deutschen Geschichte auseinander und somit verdient sie besondere Aufmerksamkeit. Sie erzählt nicht von längst untergegangenen Kulturen, von mittelalterlichen Siedlungsstrukturen oder verschwundenen Dörfern, sondern von Verbrechen, die unser Vorstellungsvermögen immer noch übersteigen – vom Massenmord der Nazis und der Menschenverachtung des Stalinismus. Der stumme Zeuge KZ-Archäologie spricht für sich!
Der Verfasser möchte den Organisatoren, Referenten und Teilnehmern der Tagung „Archäologie der Zeitgeschichte“, die am 29.10.2005 in der Gedenkstätte Sachsenhausen stattfand, seinen ausdrücklichen Dank aussprechen. Dieser Text basiert auf den Vorträgen, Führungen und sonstigen Beiträgen, die dort in einer sehr anschaulichen Form die Perspektiven der KZ-Archäologie vermittelten. In der Gedenkstätte Sachsenhausen sind bis Mitte 2006 zwei Ausstellungen zu besichtigen, die sich dieser Thematik widmen (Straße der Nationen 22, 16515 Oranienburg, Telefon 03301 2000).
Copyright Niko Rollmann