Die Stadt Stettin (Szczecin) liegt im Nordwestens Polens und ist von Berlin aus mit dem Zug in etwa...
Der Umgang mit NS-Bunkern sorgte in Berlin immer wieder für politischen Zündstoff.
„Ich beschäftige mich mit dem Untergrund. Das ist meine große Leidenschaft! Ich lese Bücher über den Untergrund, schaue mir Dokumentarfilme an, schneide Zeitungsberichte aus und führe auch … was? Nein, nein, damit meine ich keine obskuren Bands der späten sechziger Jahre oder diese LSD-inspirierten Comics. Wie? Nein, ich schreibe auch kein Buch über die RAF oder Al Kaidas „Schläfer“. Es geht mir wortwörtlich um den Untergrund … also um alles, was sich unter unseren Füßen befindet. Wie? Was? Was es denn da außer Regenwürmern und Tunneln gibt? Oh, ich glaube, Sie müssen dringend mal Ihren Horizont erweitern! Ich sage Ihnen, was es da unten alles gibt: Tunnel, Bahnhöfe, Depots, Leitungen, Wasserspeicher, Gewölbe, Pilze … also, die züchtet man da unten … Bunker, Obdachlose, die Kanalisation, Atomraketen-Silos, atomare Endmülllagerstätten, Speicher für Gas … Gräber, Bergwerke, Höhlen und Heiligtümer. Also weitaus mehr als nur Regenwürmer und Tunnel! Und natürlich die imaginären Orte … was die lieben Schriftsteller und Hollywood sich so zum Untergrund gedacht haben. Und die griechischen Unterwelten – von denen haben Sie ja vielleicht mal gehört. Okay, ich frage ja nur! Regenwürmer und Tunnel … oha! Wenn Sie mal eine Minute Zeit haben, kann ich Ihnen etwas darüber erzählen. Haben Sie nicht? Schade …“
Wieder so ein Ignorant! Wissen Sie, wenn man sich mit dem Untergrund beschäftigt, ruft das manchmal ein gewisses Unverständnis hervor. Das ist auch nachvollziehbar: Wir haben Sommer, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und eine gute Freundin ruft bei Ihnen an und fragt, ob Sie Lust hätten, mit in den Park zu kommen. Soundso würde nämlich grillen. Und was antworten Sie? „Du … ich ziehe mir gerade die Gummistiefel an, ich wollte noch mal in unseren Tunnel am Gleisdreieck gehen, da soll irgendwo Wasser stehen. Aber danach könnte ich kommen!“ Die Dame antwortet: „In Gummistiefeln? Und wieder mit diesem Modergeruch? Ist in Ordnung, bleib mal schön da unten! Tschüß!“ Und die saftige Bratwurst, die Sie bereits gewittert hatten, löst sich schlagartig in der feuchten Luft des Tunnels auf. Dass es gerade im Sommer in unterirdischen Bauwerken erfrischend kühl ist, kann man solchen Leuten absolut nicht vermitteln (okay, grillen kann man da unten natürlich nicht so gut).
Und auch im Winter verstehen die Menschen nicht, warum man unter die Erde gehen möchte. Da unten wäre es doch noch viel garstiger als an der Oberfläche. Natürlich ist diese Annahme falsch, gnadenlos falsch! Im Winter ist es da unten nämlich wärmer als oben. Es regnet dort nicht und Ihnen fallen auch keine Hagelkörner auf den Kopf! Da haben Sie es! Und damit Sie auch etwas lernen: Da unten herrscht immer eine Temperatur von etwa sieben bis neun Grad.
Egal. Die Leute hören einem sowieso nicht zu! Und dann noch diese Pseudopsychologen, die zuerst einen Blick auf meine lange Taschenlampe werfen, dann in den noch längeren Tunnel schauen und sodann schnippische Bemerkungen über sexuelle Symbole machen. Mit Verweis auf Sigmund Freud. Dass diese Menschen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nie auch nur ein einziges Werk von Freud gelesen haben und dass der arme Sigmund sich im Grabe umdrehen würde, wenn er wüsste, welch unglaublicher Verdrehung, Banalisierung, Trivialisierung und Verblödung seine komplexe Lehre von der Psyche des Menschen zum Opfer gefallen ist … äh … das sei jedenfalls hier nur am Rande erwähnt! Aber gut, hilft alles nichts: Der Untergrundler hat einen Freak-Status! Die Leute finden unsere Führungen und Seminare sehr interessant und stimulierend … na klar! Aber ich sehe es in ihren Augen, ich lese es zwischen den Zeilen: Sie halten mich trotzdem für einen Sonderling. Oder einen verkappten Gruftie. Oder, noch schlimmer, für einen Militaristen. Das wiederum kommt daher, dass sich in dieser Szene manche Leute ein ganz kleines bisschen zu viel mit Bunkern beschäftigen. Und wir müssen es dann ausbaden!
Vielleicht liegt es auch nur am Outfit. Es fällt schon auf, dass die meisten Untergrundler in schwarzen Klamotten rumlaufen. Da schnappt die Klischee-Falle dann schlagartig zu! Der Chef unseres Vereines hatte mal vorgeschlagen, dass wir nur noch in weißen Anzügen durch den Untergrund führen sollten. So könnten wir endlich aus dieser Schablone ausbrechen. Ich fand diese Idee genial! Leider musste ich trotzdem mein Veto einlegen, da ich grundsätzlich nur schwarze Kleidung trage. Aber vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit, dem Untergrund ein freundliches, jungdynamisches Image zu verpassen: Wir tünchen die Orte alle weiß! Und der Untergrund würde in neuem Glanze erstrahlen … wir würden durch lichtdurchflutete, helle Räume wandeln! Wie die Götter durch den Olymp! Das wäre eine wahrhaftig postmoderne Dekonstruktion der Identität des Untergrundes! Bingo!
Leider haben meine Berechnungen ergeben, dass die 17 500 Liter „Alpinweiß“, die für dieses Vorhaben notwendig wären, die finanzielle Jahresbilanz unseres Vereines negativ beeinflussen würden. Ich bin mir auch nicht sicher, ob unsere 57 Vereinsmitglieder wirklich alle bereit und fähig wären, die notwendigen 8700 Arbeitsstunden aufzubringen. Einige dieser Menschen haben nämlich „Familien“ bzw. „Jobs“ und sind somit nur begrenzt einsetzbar. Ihr Engagement weist Defizite auf! Außerdem sitzen in unserem Laden einige „Denkmalschützer“ … die haben mit solchen Projekten immer Probleme. Somit bleibt der Untergrund auf absehbare Zeit schwarz und grottig. Und wir werden weiterhin aus der Gothic-, der SM- und der Fledermaus-Szene Anfragen bekommen, ob man in unseren Katakomben nicht irgendwelche Parties organisieren könnte. Abschließend möchte ich hier offiziell zur Verteidigung der schwarzen Kleidung sagen, dass man sich da unten schnell mal schmutzig machen kann und dunkle Kleidung da einfach toleranter ist. Okay?!?
Na gut, das Image ist also schlecht. Und wie bei allen Menschen, die sich mit großer Intensität bestimmten Themen hingeben, baumelt ja auch ein großes Schwert über unseren Köpfen: Die gute alte Fachidiotie! Oh ja, ich weiß, was unter der Erde abläuft, mir können Sie da nix vormachen! Ich hab jeden Bunker gesehen, bin durch jeden Tunnel gekrabbelt, hab jedes Brauereigewölbe erkundet und jeden Wasserspeicher begutachtet! Und die Höhlen kenn ich auch alle! Mir können Sie nix vormachen! Genau. Und ansonsten von Tuten und Blasen keine Ahnung!
Wissen Sie, ich sage Ihnen mal was dazu: Man kann eigentlich nicht behaupten, dass die Beschäftigung mit dem Untergrund zwangsläufig eindimensional ist. Wenn man sich diesem Thema umfassend widmet und sich nicht nur auf Bunker beschränkt, hat man zahllose Möglichkeiten, seinen Horizont zu erweitern. Ja, dann kommt man zum Beispiel an der griechischen Mythologie nicht vorbei. Und wer liest heute noch antike Mythen? Sie werden auch einen Blick auf die Sumerer werfen, die sich ihre eigenen Gedanken über die Unterwelten machten. Sie werden sich mit der römischen Ingenieurskunst beschäftigen – die haben ganz famose Tunnel und Kanalisationen gebaut! Die sind jetzt noch im Einsatz! Sie werden sich mit den mittelalterlichen Vorstellungen der Hölle vertraut machen (Dante lässt grüßen!). Sie werden sich mit dem sozialen Elend der bedauernswerten Menschen beschäftigen, die im 19. Jahrhundert die ganzen schönen Tunnel graben mussten. Ich sage nur: Land unter, Steine auf den Kopf und ein paar schöne Lungenrisse! Sie werden sich … mit dem unerhörten, atemberaubenden Gotthard-Basistunnel-Projekt beschäftigen, das ein infrastrukturelles Superlativ der Gegenwart darstellt. Und Sie werden Ihre Kentnisse über Flora und Fauna erweitern: Haben Sie schon mal von dem berühmten Grottenolm gehört, der da unten lebt? Nein, das ist kein Lindwurm oder so, den geheimnisvollen Grottenolm gibt es wirklich! Gucken Sie in Ihren Brockhaus! Und schließlich können Sie noch mal bei Kafka vorbeischauen und sich über die Bedeutung seiner untergründigen Erzählung „Der Bau“ den Kopf zerbrechen. Welches der vier gängigen Interpretationsmuster sagt Ihnen am meisten zu?
Und trotzdem laufen Sie natürlich Gefahr, sich in einen gnadenlosen Fachidioten zu verwandeln! Zu Kafka sollte einem doch etwas mehr einfallen als dieses zwanghafte Tierchen, dass sich da unten seine Festung gräbt. Und die Tempel der Römer haben sicher eine größere kulturelle Bedeutung als ihre Tunnel. Und so weiter! Was tun gegen diese Verblödung? Ganz einfach: Ich habe einen Eid abgelegt, dass nur jedes zweite Buch und nur jeder zweite Film, den ich mir anschaue, mit dem Untergrund zu tun haben darf. Und dass ich jede Woche mindestens eine überirdische Veranstaltung besuche … also zum Beispiel in eine Gallerie gehe oder so. Das klappt eigentlich ganz gut. Auch wenn ich meiner Freundin vorhin am Telefon als Erstes von dem genialen Tunnel erzählt habe, mit dem Räuber eine brasilianische Bank um sehr viel Geld erleichtert haben.
Aber gut, andere Männer erzählen von Autos oder irgendwelchen Sportereignissen. Und das ist auch nicht so der tiefschürfende Hammer! Nur: Die müssen sich nie rechtfertigen! Die sagen einfach: „Ich bin ein Fussball-Fan!“ oder „Ich liebe mein Auto!“ und niemand fragt: „Warum?“ Das wird als eine Art Gottesgericht hingenommen. Nur bei uns sagt man immer: „Ist ja toll, was Ihr da so macht! Aber was soll das eigentlich?“ Wir müssen uns also permanent rechtfertigen. Aber gut, wenn Sie unbedingt wollen … äh … man sollte als reflektierter Mensch ja sowieso seine Vorlieben kritisch hinterfragen und begründen können. Also: Was soll das Ganze?
Es gibt verschiedene Antworten. Fangen wir doch mal irgendwo an: Sie werden es vielleicht nicht wissen, aber jeder Arbeitnehmer hat ein Recht auf eine Woche bezahlten Bildungsurlaub pro Jahr. Peng! Diese „Bildung“ wiederum kann z.B. „politische Erwachsenenbildung“ heißen. Das muss man sich so vorstellen: Der Arbeitnehmer sagt zum Chef: „Herr Köhler, ich nehme im September eine Woche Bildungsurlaub.“ Und Herr Köhler antwortet: „Cool! Ich lege viel Wert auf gebildete Mitarbeiter.“ Ja, und dann verbringt der Arbeitnehmer eine Woche in einem Seminarraum und lässt sich ausführlich die Gründe für den Untergang der Weimarer Republik darlegen … und was man daraus lernen könnte. Sie wissen schon, die Geschichte mit der Fünfprozentklausel und so weiter. Und dem Verfassungsschutz! Und nach diesen Seminaren sind die Teilnehmer dann vor allen totalitären Versuchungen gefeit! Oder sie haben zumindest einfach mal die Antennen rausgezogen. Das schadet nicht!
So ist das. Genauer gesagt – so war das mal! Eines Tages kamen nämlich die bösen neunziger Jahre und alles wurde irgendwie knapper und schlechter. Und plötzlich sahen die bilanzgestressten Chefs es gar nicht mehr so gerne, wenn irgendjemand Bildungsurlaub beantragte. Ein Recht haben, ein Recht bekommen, ein Recht einfordern, bei der nächsten Kündigungsrunde der Erste zu sein … Sie wissen schon, was ich meine! Und so aufregend war der Untergang der Weimarer Republik in den miefigen Seminarräumen dann auch wieder nicht. Somit liefen der politischen Erwachsenenbildung die Menschen weg. Bis plötzlich jemand auf die Idee kam, dass Geschichte auch am Objekt studiert werden kann. Das Wort „Katalysator“ flog durch den Raum! Irgendwo öffneten sich „historische Fenster“! Und plötzlich erzählten Steine Geschichte! Der Vorhang wurde geöffnet und das Konzept „Lernen am historischen authentischen Ort“ betrat die Bühne. Und das lief! Und zwar nicht nur bei bildungshungrigen Erwachsenen, sondern überhaupt ... also auch bei normalen Leuten!
Wovon zum Teufel ich rede? Pädagogengeschwätz? Okay, mal ganz konkret! Szenario eins: Ich stehe in einem Raum vor einer Gruppe gelangweilter Jugendlicher und erzähle ihnen etwas über die Entwicklung der städtischen Infrastruktur Berlins. Die Kiddies finden das turbolangweilig! Sie kauen Kaugummi, verdrehen die Augen, gähnen demonstrativ, tuscheln und lassen ihre Handys klingeln. Es macht keinen Spaß. Mir nicht und ihnen nicht. Und ich würde lieber bei Lili auf dem Sofa sitzen und DVDs gucken. Und nun das Szenario zwei: Ich stehe vor genau dieser Schülergruppe in einem unterirdischen Brauereigewölbe aus dem 19. Jahrhundert. Es ist dunkel und feucht. Irgendwo plätschert Wasser. Geräusche irren umher. Eine Kröte wurde bereits gesehen. Ratten werden vermutet. Natürlich gibt es hier keine Ratten. Aber das muss ich denen ja nicht auf die Nase binden! Es reicht mein Hinweis, dass Ratten nur einzelne Personen angreifen, die sich von der Gruppe absondern. Somit stehen meine Schäfchen also schön handlich in einer geschlossenen Formation vor mir. Sie sind mir voll und ganz ausgeliefert, da sich diese verschachtelten Gewölbe vor dem Labyrinth des Minotaurus nicht verstecken müssen! Und siehe da: Sie hören mir alle zu! Und lernen! Nicht nur, weil es hier vielleicht etwas gruselig ist, sondern weil so etwas vielleicht doch ein ganz kleines bisschen interessanter sein könnte als MTV oder diese komischen Mangas.
Und genau da liegt der Hase im Pfeffer! Diese unterirdischen Orte atmen Geschichte, man kann damit in einer Stadt wie Berlin lückenlos die Zeit von 1850 bis zur Gegenwart abdecken. Hier unten bleibt die Zeit nicht stehen, aber sie verläuft sehr viel langsamer. Da oben wird doch abgerissen, was nicht mehr gebraucht oder ideologisch nicht mehr erwünscht wird. Na, wie lange wird sich der Palast der Republik denn noch halten, hm? Wo steht Lenin? Wo genau verlief die Mauer? Wo hat der olle Goebbels den totalen Krieg empfohlen? Alles bald weg! Sogar das ICC, dieses grandiose Zeugnis der utopisch-technikseligen Siebziger wird bald wieder ins Weltall abschwirren. Aus und vorbei! Aber hier unten, hier ruhet alles sanft (mehr oder weniger … manche Leute müssen ja überall rumfummeln!). Abgeschlossen und Ruhe im Kasten! Und das macht den Untergrund spannend. Ja, so landet man da unten. Alles für einen guten Zweck!
Das ist der wichtigste Grund für die Beschäftigung mit dem Untergrund. Aber es gibt noch andere Motive. Die Dinge, die im Verborgenen liegen, sind ja immer irgendwie interessant! Der Mensch ist ein neugieriges Wesen … und die Tiere doch auch. Hündchen, Amöbe, Orang-Utan und Homo sapiens schauen sich gerne mal in fremden Gefilden um. Man könnte dort ja eine neue Nahrungsquelle finden. Oder eine größere Gruppe paarungswilliger Weibchen. Oder … Gold. Oh, das hätte ich jetzt nicht sagen sollen! Nun denken Sie: „Entlarvt! Schatzsucher!“ Aber nein, so banal ist das nicht. Sollte es zumindest nicht sein. Es geht eher darum, im foucaultschen Sinne versteckte Diskurse aufzudecken und ans Tageslicht zu bringen. Sie wissen schon … da unten spielt sich eine Art zweite Geschichte, eine Parallelgeschichte ab. Mein Kollege spricht dabei gerne vom „kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft“. So kann man das auch nennen. Und genau an diesem Punkt stellt sich mir dann die Frage, die ich selber so oft höre, da schließt sich dann der Kreis: „Was machen die da unten? Was bringt Menschen unter die Erde? Was wollen die da? Warum bleiben die nicht oben?“ Und dann marschieren sie alle auf: die Weinkeller, die Liebesgrotten, die Fluchttunnel, die Gruften, die Eiskeller, Agharti, die Kommandozentralen, die Kultorte, die Verstecke der Bösewichte aus den James Bond-Filmen, die Kraftwerke und die Rhabarber-Plantagen. Und natürlich der unterirdische Wassertank für die Beobachtung subatomarer Zerfallsprozesse in Cleveland. Da war ich nämlich letzte Woche … um mir das Ding mal anzuschauen. Hochinteressant! Mein ausführlicher Bericht darüber wird bald auf dieser Website erscheinen. Bis dann!
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